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Presse / Publikationen / 2015_2023 /  


Was wir in der Ukraine erleben, ist nur ein kleiner Ausschnitt eines größeren Puzzles – wenn wir Europäer die Vogelperspektive wagen, erkennen wir, dass Russland gesamteuropäisch integriert werden muss.
 
 
Auch 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums steht das europäische Haus auf keinem stabilen Fundament. Russland, das größte Land Europas und zugleich Scharnier und Klammer zum asiatischen Kontinent, gibt sich mit dem Verlust der seiner Westgrenze vorgelagerten ehemaligen Vasallenstaaten nicht zufrieden und keine Ruhe. Die in der Europäischen Union vereinte Staatengemeinschaft hat bislang kein griffiges Konzept für eine befriedigende Lösung und eine auch Russland befriedende Integration entwickelt. Amerika ist ein übers andere Mal von der Unfähigkeit Westeuropas enttäuscht und von der Schwäche der EU überrascht. Aber auch Washington agiert weitgehend planlos und ist zunehmend daran interessiert, vornehmlich die eigenen Interessen zu sichern.
 
Zugleich gärt es im einst roten Riesenreich. Die von der Idee der Menschenrechte und dem bürgerlichen Profil eines Andrej Sacharow inspirierten jungen Eliten in den urbanen Ballungszentren begehren auf und streben nach Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Ein neuer Mittelstand entsteht, der allerdings unter dem Mehltau des Putin’schen Oligarchensystems leidet. Dringend benötigt werden ausländische Investitionen und Know-how aus aller Welt.
 
Zugleich erleben aber die alten Kader in Militär, Verwaltung und Justiz eine Renaissance und gehen mit den neuen Machthabern in der Großindustrie, sprich in der Gas- und Ölwirtschaft, eine willfährige Liaison ein. Wladimir Putin spielt auf Zeit; er will seinen Lebenstraum, dem russischen Weltmachtanspruch zu neuer Geltung zu verhelfen und eine Eurasische Union als Gegenstück zur EU zu etablieren, vollenden. Dafür muss er den Deckel innenpolitisch fest auf dem brodelnden Topf halten und auch die im Kaukasus, Tschetschenien und anderswo aufflammenden separatistisch-islamistischen Bewegungen niederzwingen, russische Enklaven wie in Georgien oder auch auf der Krim sichern und auf dem Klavier des Panslawismus Töne anschlagen, die eher national denn weltkommunistisch klingen.
 
Moskaus perfide Doppelstrategie
 
Um Russlands Einfluss an seinen Süd- und Westgrenzen wieder herzustellen und systematisch zu vergrößern, verfolgt Putin eine Doppelstrategie. Dabei unterscheidet er zwischen Staaten, die bereits zu den westlich geprägten Allianzen von EU und NATO gehören, und Ländern und Staatsgebilden, die sich zwar von Moskau losgesagt, aber noch keinen Anschluss an andere Bündnissysteme gefunden haben.
 
Die Ukraine ist ein klassisches Beispiel für die Länder, die sich im Zuge einer Öffnung nach Westen in einem demokratischen Veränderungsprozess befinden, aber noch keinen endgültigen Unterschlupf gefunden haben. Hier operiert Russland mehrstufig. Zunächst wird ein moskauhöriges Regime wie das des korrupten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch bis hin zur politischen und moralischen Rückendeckung für die Anwendung brutaler Gewalt gegen das eigene Volk außenpolitisch und mit Geheimdienstoperationen unterstützt. Dazu dienen auch Drohgebärden wie der Lieferstopp von lebensnotwendiger Energie. Rabiate Preisdiktate für Gas im Verbund mit voluminösen Kreditangeboten sowie das Anfüttern durch eine etappenweise Finanzierung des kollabierenden Staatshaushalts dienen dazu, das Parlament und den Regierungsapparat vollständig gefügig zu machen.
 
Als aber selbst solche Maßnahmen den Durchhaltewillen der Maidan-Bewegung nicht erlahmen ließen, wurde dem vom aufbegehrenden Volk gestürzten Machthaber samt einem Großteil des auch mit Hilfe der Geheimdienste ins Ausland transferierten Staatsvermögens Zuflucht in Russland geboten. In der nächsten Phase sickern als Touristen und Geschäftsleute getarnte Agenten ins ukrainische Nachbarland. Es kommt zu geschürten Unruhen, paramilitärische Bürgerarmeen besetzen zentrale Institutionen und ein gelenktes Parlament nebst neu installierten politischen Repräsentanten ruft Moskau zu Hilfe, um die angeblich aus den Fugen geratene allgemeine Ordnung wieder herzustellen und die russischstämmige Bevölkerung vor behaupteten Übergriffen zu schützen. Das Schema ist bekannt und erprobt: Budapest 1956 und Prag 1968 lassen grüßen.
 
Das Ziel dieser umfassenden Destabilisierungsstrategie ist eine zumindest partielle Wiederherstellung der alten Machtverhältnisse. Wo dies nicht erreicht werden kann, geht es um eine Separation wie auf der Krim oder eine Teilung des Landes in eine westeuropäisch ausgerichtete West- und eine sich mit Russland föderierende Ost-Ukraine. Auf jeden Fall aber soll den Westen das Abenteuer einer souveränen und selbstständigen Ukraine und der russische Machtverlust in der ehemaligen Kornkammer Osteuropas so teuer wie möglich zu stehen kommen und potenzielle Nachahmer abgeschreckt werden.
 
Die EU in die Bredouille bringen
 
Der andere Teil der Putin’schen Doppelstrategie hat die Länder im Auge, die schon die Flucht aus dem ehemaligen Sowjetblock in die westlichen Bündnissysteme geschafft haben und sich dort sicher wähnten. Hier konzentriert Moskau sich vor allem auf Südosteuropa. Die ehemalige Südostflanke der NATO mit Ländern wie Griechenland befindet sich in ökonomischen Turbulenzen. Die EU ist damit beschäftigt, dort mit immensen Anstrengungen die großen finanziellen Löcher zu stopfen. Mazedonien, der Kosovo und Serbien sind Unruheherde par excellence. Kroatien und Slowenien ducken sich weg und können noch ihre Probleme mit Korruption und Misswirtschaft kaschieren. Ungarn driftet isolationistisch in eigenbrötlerische und nationalkonservative Sphären ab und in Tschechien blüht die Korruption wie noch nie. In dieser Gemengelage bieten Rumänien und Bulgarien Moskau ideale Ansatzpunkte für einen Hebel, um die EU in Südosteuropa in die Bredouille zu bringen.
 
Nach einer Phase der bürgerlichen Erneuerung im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt 2007 haben besonders in Bulgarien Korruption und Vetternwirtschaft, organisierte Kriminalität und Machtfilz in allen staatlichen Institutionen wieder verstärkt Einzug gehalten und Oberwasser bekommen. Russisches Kapital spielt dabei eine entscheidende Rolle und hat die alten Kader zurück an die Hebel der Macht katapultiert. Die alte Nomenklatura beherrscht weite Teile der Energiewirtschaft, des Bankensektors, der Versicherungen sowie der Elektronik-, Genussmittel- oder auch der Tabakindustrie und des KFZ-Handels. Zu einem Medienmogul von Berlusconi’schen Ausmaßen aufgestiegen ist der Oligarch Deljan Peewski, der in Korruptionsskandale verwickelt war und der Veruntreuung von Millionenbeträgen im Rahmen der Privatisierung von Betrieben bezichtigt wurde. Seine Mutter Irena Krastewa befehligt als ehemalige Chefin der staatlichen Lotteriegesellschaft gemeinsam mit ihrem Sohn den größten Teil des Zeitungsmarktes und des Printmedienvertriebsnetzes sowie eines TV-Senders und übt so ein wahres Meinungsmonopol aus. Kaum ein Wunder, dass der damals erst 33-jährige Peewski im Juni 2013 von dem weitgehend korrumpierten Parlament auch noch zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes DANS berufen wurde.
 
Eine Besonderheit in Südosteuropa ist die Verknüpfung russischer und türkischer Interessen. Die türkisch-nationalistische Partei stützt die Infiltration Bulgariens durch die mit russischem Kapital operierende Oligarchen und mischt dabei kräftig mit. Der Medienzar Peewski entstammt ihren Reihen. Während auf der Krim die muslimischen Tartaren die Wiederherstellung der russischen Dominanz und damit eine neue Unterdrückung befürchten, verhelfen türkischstämmige Bulgaren der russlandabhängigen Entourage immer mehr in die Steigbügel. Dabei bestehen zum NATO-Mitglied Türkei und dessen Präsident Recep Tayyip Erdogan kaum oder allenfalls schlechte Beziehungen. Moskau und den bulgarischen Oligarchen kann das nur recht sein.
 
Ohne die Russen ist Europa nicht zu machen
 
Die EU aber schaut weg. Für in Artikel 7 des EU-Vertrags (EUV) vorgesehene Sanktionen bei einer Verletzung der in Artikel 2 des EUV aufgeführten Werte reicht es in Bulgarien, aber auch in Rumänien noch nicht. Geschickt gibt sich die bulgarische politische Elite nach außen in legal-formalistischer Weise EU-konform und lammfromm. Der einzig verbliebene demokratische Leuchtturm im Lande, Staatspräsident Rossen Plewneliew, verfügt in dem nach dem Modell einer Kanzlerdemokratie aufgebauten bulgarischen System nur über eine geringe und vornehmlich repräsentative Macht. Das Oligarchen- und mit diesem verbündete Medienkartell nimmt ihn in die Zange, sucht ihn vor sich her zu treiben und trachtet unablässig danach, auch diesen letztverbliebenen Demokraten komplett kaltzustellen.
 
Vor allem aber ist den bulgarischen Oligarchen ein einzigartiger trojanischer Coup gelungen. Kapitalmonopolist und Kartellchef Sergej Stanischew ist nicht nur Vorsitzender der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP). Der Mann, dem laut Wikipedia bis zu seiner Abwahl als Regierungschef 2009 eine „unzureichende Bekämpfung der Mafia“ zugeschrieben wird, ist 2011 sogar zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) aufgestiegen. Am vergangenen Samstag erst hat die SPE den deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz als ihren Spitzenkandidaten für die im Mai anstehenden Europawahlen nominiert und damit für die Nachfolge von José Manuel Barroso als Präsident der EU-Kommission auf den Schild gehoben. EU-Parlamentspräsident Schulz ahnt, was sich in Rumänien und Bulgarien vollzieht und wie sehr die jungen bürgerlich-demokratischen Kräfte dort in Bedrängnis geraten sind. Doch meint er offenbar, sich vor den Europawahlen keine klärenden Debatten in der SPE leisten zu können und geht den Problemen aus dem Weg. In seinem Terminkalender kommt Südosteuropa nicht mehr vor. Moskau ist weiter in der Vorhand und diktiert dem Westen die Spielzüge.
 
Doch ohne die Russen ist Europa nicht zu machen. Das wissen auch die Amerikaner. Für den Westen gilt, genau hinzuschauen, das junge Bürgertum und den Mittelstand als stabilisierende Faktoren zu fördern und mit der real existierenden Nomenklatura in Moskau die Balance zu halten. Die OSZE muss aktiviert und eine internationale Kontaktgruppe eingerichtet sowie runde Tische etabliert werden. Russland muss gesamteuropäisch integriert und sein Selbstbewusstsein in einem auch für seine Nachbarn verträglichen Sinn gefördert werden, sonst wird die Welt fassungslos auf Putins am 7. März beginnende Paralympics in Sotschi und ein Gemetzel auf der benachbarten Krim schauen. So weit aber darf es nicht kommen.
 
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von Richard Schütze
   
 
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