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Presse / Publikationen / 2013_2014 /  

Ein Tag mit dem Auto in der Hauptstadt zeigt: Der Sommer weicht nicht nur Straßenkörper auf, er bringt offenbar auch Gehirnmasse zum Schmelzen.
Sie stehen am Straßenrand, stelzen ein paar Meter auf und ab und warten. Schon am frühen Abend. Noch flirrt die Luft in den Straßen und über den Plätzen der City. Von Westen wirft die untergehende Sonne letzte Strahlen über die Stadt und auch die Lützowstraße hinunter. Von der Potsdamer Straße biege ich mit dem Wagen in die Lützowstraße ein, die unweit der Nobelherbergen Hotel Berlin und Esplanade in den Lützowplatz mündet. Auch die Bar am Lützowplatz ist eine feine Adresse. Nur einen Steinwurf entfernt ist jenseits der Spree das wie ein gigantischer Schiffbug anmutende CDU-Hauptquartier vor Anker gegangen.

Auf der Lützowstraße gilt Tempo 30. Eher versteckt und ziemlich klein tauchen die Schilder von Zeit zu Zeit am Straßenrand auf. Gefühlt könnte die breit angelegte und schnurgerade gezogene Straße auch vierspurig genutzt werden. Ich erinnere die Warnung der Taxifahrer. Die Lützowstraße ist eine Abkassierstrecke. Runterbremsen, sonst sind Punkte in Flensburg und viele Euros fällig und schon bei Tempo 60 wäre auch der Führerschein in Gefahr.

Diese spezielle Welt der Erwachsenen

Entschlossen treten sie zur Straßenmitte hin vor und kommen von beiden Seiten auf meinen Wagen zu. Sie verengen die breite Straße auf nur noch eine freie Fahrspur. Sie suchen Blickkontakt und wollen auf sich aufmerksam machen. Junge Gesichter, blass und leer, mit ausdruckslosen, traurigen Augen. Gefühlt weit unter 18, ja sogar 16 Jahren jung. Viele unter 1,60 Meter klein. Wie ausgesetzte Kinder muten sie an. Mädchen, die nun vom frühen Abend bis in die späte Nacht versuchen, im Überlebenskampf des Großstadtdschungels zu bestehen und mit ihren Körpern den Zuhältern ein protziges Leben mit Luxuskarossen in den goldenen Gossen der Megacity zu erkaufen.

Während der Wagen durch dieses traurige Spalier der grell geschminkten Lippen, dunkel ummalten Augen, aufgeklebten Wimpern und tiefschwarzen oder wachsblonden Perücken mit Push-up-BHs, ultrakurzen Röckchen, glitzernden Strumpfhosen und glänzend langen Stiefelschäften rollt, fragen besorgt vom Rücksitz meine Kinder, was all diese Mädchen, kaum größer als sie selbst, denn von uns wollen. So schnell fällt mir keine Antwort ein; die Kinder scheinen mir noch zu jung, um sie mit dieser speziellen Welt der Erwachsenen vertraut zu machen. Um die Ecke, in der an den Lützowplatz angrenzenden Einemstraße, das gleiche Bild. Auch auf der Kurfürstenstraße und der Kleiststraße, die beim KaDeWe in den weltberühmten Kurfürstendamm mündet, gehören die jugendlichen Sklavinnen unserer Citys zum Straßenbild.

Weit und breit keine Polizei, nichts, niemand, nirgends. Keiner fragt nach Ausweisen, sucht die dürren Ärmchen nach Nadelstichen ab, nimmt zumindest die ganz Jungen in Obhut oder kümmert sich sonst irgendwie um diese Art von menschlichem Strandgut. Auch mitten in Deutschlands Hauptstadt hat die weitgehende Legalisierung der Prostitution mit dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten von 2001, das eigentlich die rechtliche Stellung von Prostituierten umfassend verbessern sollte, dem Menschenhandel und der Ausbeutung die Bahn weitgehend frei gemacht. Besonders bei Tempo 30. Vor allem den Grünen waren das Prostituiertengesetz und die Tempo-30-Zonen ein Herzensanliegen. Doch auch der Widerstand der großen Volksparteien gegen diese Entwicklung hielt sich in überschaubaren Grenzen.

Zum Wohle der Umwelt. Oder so ähnlich

Nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt feiert man gern. Gediegen, gut und bürgerlich. Besonders im Sommer, abends nach Dienstende oder am Wochenende. Ein lauschiger Biergarten mit hoch gewachsenen und mit ihrem breit ausladendem Astwerk viel Schatten spendenden Bäumen lädt direkt gegenüber dem Bundeskanzleramt zum Verweilen, Reflektieren und Disputieren oder auch Erzählen, Plauschen und Flirten ein. Nur die Spree trennt den „Zollpackhof“ vom dienstlichen Garten der Kanzlerin. Wer hier ein kühles Hefeweizen oder eine Berliner Weiße mit Bratwurst oder Kotelett vom Grill genießen will, der findet den Zugang über die Elisabeth-Abegg-Straße. Der Gast, der allerdings mit dem Wagen in diese Sackgasse hineinfährt, hat schon damit ein Problem beziehungsweise er bekommt es alsbald.

Denn das gesamte Sträßlein weist für alle Gäste des großen „Zollpackhof“-Geländes nur eine gute Handvoll legaler Parkplätze in einem kleinen Bereich am rechten Seitenrand der Fahrbahn auf. Einst gab es am Wendehammer der Einbahnstraße die Möglichkeit, die vielen Autos der Biergartengäste auf einem angrenzenden fußballgroßen Feld abzustellen. Doch mittlerweile hat das Bundesinnenministerium diese Fläche in Besitz genommen und mit einem über zwei Meter hohen Schutzzaun komplett umzäunt. Irgendwann in Bälde will der Bund hier und auf angrenzenden Flächen das neue Innenministerium errichten. Verstreut sind auf dem umzäunten Platz diverse in Plastikfolien verpackte Baumaterialien abgestellt, die auf den ersten Blick wie Bausteine ausschauen. Diese Steine werden alsbald nach Einbruch der Dämmerung die ganze Nacht über von acht Scheinwerfern auf großen Flutlichtmasten beleuchtet. Zum Wohle der Umwelt, zwecks Einsparung von Strom und Energie und zum Schutz der Erdatmosphäre vor Erwärmung. Oder so ähnlich.

Direkt gegenüber dem Biergarten wimmelt es von Ordnungshütern. Der zweite Anwohner der Elisabeth-Abegg-Straße ist eine große Wache von Polizei und Feuerwehr. Das Regierungsviertel soll optimal be- und geschützt sein. Hilfesuchend irren die Autos harmloser Bürger an dem Wachgebäude und dem Biergarten vorbei bis zum Wendehammer hinunter und wieder zurück. Auch in der näheren und weiteren Umgebung sind sämtliche legale Parkmöglichkeiten streng reguliert oder erst gar nicht vorhanden. Parkraumbewirtschaftung heißt das auf Amtsdeutsch.

„Wir tun nur unseren Job“

Angesichts so vieler Verbotsschilder rundum parkt ein verzweifeltes Rentnerpärchen mit den Geburtstagsfeiergästen im Fond schlussendlich an einer sandigen und gänzlich unbewachsenen Stelle jenseits des Trottoirs parallel zum Bauzaun. Vom Herumsuchen ermattet hoffen die guten Leute inständig, dass dieses Plätzchen legaler Parkraum ist. Doch sie haben die Rechnung ohne den Finanz- und Innensenator der Stadt gemacht.

Alsbald rollt ein Streifenwagen die Straße hinunter und parkt im Wendehammer. Geruhsam öffnen sich die Türen und gemächlich machen sich zwei uniformierte Beamte daran, all jenen Autos nacheinander grüne Hinweiszettel auf eine „festgestellte Verkehrsordnungswidrigkeit“ an die Scheiben zu heften, die von „Zollpackhof“-Gästen jenseits des Bürgersteigs entlang des Bauzauns abgestellt wurden. Auf Nachfrage erklären die Beamten, sie rechneten auch den Sandstreifen jenseits des Trottoirs als zum Bürgersteig gehörig. Die dort abgestellten Autos behinderten im Übrigen den Verkehr oder auch Fußgänger.

Ich schaue mich um. Seit langen Minuten schon kommt kein einziger Mensch zu Fuß die Straße entlang oder begeht gar den Bürgersteig bis hinunter zum Wendehammer. Auch in den nächsten Stunden kreuzt kein einziger Fußgänger auf. Der gepflasterte Bürgersteig bleibt unbenutzt und leer. Denn die mit den Gepflogenheiten ihrer Ordnungshüter vertrauteren Gäste reisen klugerweise per Taxi an, andere kommen mit dem Fahrrad und nur jene, denen die Schröpfung noch bevorsteht, fahren geradewegs in die Falle hinein. „Wir tun nur unseren Job“, maulen die abermals zur Rede gestellten Beamten, als sie sich in aller Ruhe auch noch daran machen, die entlang der Straße in den Zonen mit absolutem Halteverbot am Straßenrand abgestellten KFZ mit grünen Hinweiszetteln auszustatten.

Mündlich und schriftlich, vor allem aber kostenpflichtig

Nicht einmal eine empörte Gruppe braver Bürger, die sich in ihrem Rechtsempfinden beeinträchtigt fühlen, kann sie von ihrem sinnwidrigen Tun abhalten. Ich rechne hoch: Allein dieses Sträßlein dürfte der Stadt Berlin Abend für Abend bis zu eintausend Euro und mehr als Wegezoll in die klammen Kassen spülen. Auch wenn voll ausgebildete Polizisten mit dieser Art uneinsichtiger Bürgerdrangsalierung allein in der Elisabeth-Abegg-Straße jeden Tag mindestens eineinhalb Stunden ihrer an anderer Stelle vielleicht eine wirkliche Not wendenden Zeit vertun.

Doch auf einmal kommt unversehens Bewegung in die idyllische Szene. Ein Polizeibus taucht vor der Wache auf und hastig springt ein Beamter aus der Beifahrertür. Raschen Schritts geht er in eine kleine Stichstraße hinein, die als Zufahrt zu dem offiziellen Parkplatz der Polizeiwache und als Ausfahrt für die Dienstfahrzeuge von Polizei und Feuerwehr aus der Wache dient. Dort gilt selbstverständlich absolutes Halteverbot. Gleichwohl sind mehr als eine Handvoll Zivilfahrzeuge genau dort abgestellt. Allerdings haben die hier verbotswidrig geparkten Fahrzeuge die betulich alle anderen Falschparker notierenden beiden Beamten erstaunlicherweise überhaupt nicht interessiert.

Der Polizist aus dem Polizeibus springt in eines der verbotswidrig abgestellten Zivilfahrzeuge und parkt es auf einen frei gewordenen offiziellen Parkplatz im Hofgelände der Wache um. Geschafft. Wenigstens dieser Beamte hält sich nun auch an die Regeln, die hier für alle anderen Bürger gelten. Die übrigen fünf verbotswidrig abgestellten Fahrzeuge aber bleiben weiter unberührt und unnotiert – auch von den alle anderen KFZ verwarnenden Ordnungshütern. Unser „Umparker“ aber sprintet zurück zu dem Polizeibus, der eilig wieder die Elisabeth-Abegg-Straße verlässt.

Berlin gibt es überall in Deutschland. In der Herrentoilette des „Zollpackhofs“ finde ich eine Postkarte mit dem Motiv eines Polizeibusses; an der Stelle, wo „POLIZEI“ stehen müsste, findet sich auf dem abgebildeten Polizeifahrzeug die Aufschrift „KANZLEI“ und auf der Rückseite der Postkarte eine Werbung für eine Berliner Anwaltskanzlei, die sich auf Verkehrsrecht spezialisiert hat. Und auf den grünen Hinweiszetteln, die die beiden Polizisten an die Bürgerautos klebten, steht in fetten Lettern: „Auch Sie können nur gefahrlos am immer dichter werdenden Straßenverkehr teilnehmen, wenn jeder die Verkehrsvorschriften beachtet.“ Das musste mal gesagt werden. Mündlich und schriftlich, vor allem aber kostenpflichtig. Dass der Bürger häufig „verbotswidrig“ handelt. Ein renitenter Ignorant, wer sich über die doppelte Verneinung in diesem Wort Gedanken macht. Der „Summer in the City“ weicht nicht nur Straßenkörper auf – er bringt offenbar auch Gehirnmasse zum Schmelzen.

von Richard Schütze
29.07.2013
   
 
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