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Deutschland ist kein Überwachungsstaat, sondern ein überwachter Staat. 68 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs muss Schluss damit sein. Jetzt liegt der Ball bei US-Präsident Obama.
Das Geflüster Verliebter, Bestellungen und Vertragsentwürfe, Gespräche von Anwälten mit ihren Mandanten, Details von Koalitionsverhandlungen, währungspolitische Direktiven und vielleicht sogar eine Order der Kanzlerin an ihre Minister: Auch diese Informationen sind im Netz in Wort und Schrift zugänglich für den, der über die entsprechenden technischen Mittel verfügt.

Das Prism-Spähprogramm der amerikanischen NSA und das wohl noch umfassender angelegte britische Tempora-Projekt sind in der Lage, Verbindungsdaten und auch übermittelte Texte abzuschöpfen und mit speziellen Suchmaschinen auf nachrichtendienstlich relevante Stichworte hin zu durchforsten. Die Mittel, die Stasi-Agent HGW XX/7 in dem im kalifornischen Hollywood mit einem Oscar ausgezeichneten deutschen Film „Das Leben der Anderen“ zur Verfügung standen, wirken demgegenüber geradezu primitiv und lächerlich.

Während die Stasi ein Hunderttausende umfassendes Heer von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern allein zur Überwachung und Informationsbeschaffung benötigte und an dem eingesammelten Datenwust schier erstickte, reicht im Zeitalter des weltweit genutzten Internets eine wesentlich kleinere Truppe von Spezialisten schon zur Überwachung der Kommunikation im globalen Netz.

Die Verträge waren allen Regierungen bekannt

Dabei können sich die Weltkrieg-II-Alliierten Amerika und Großbritannien in Europa und vor allem auch in Deutschland nicht nur auf die aus ihrem damaligen Status als Siegermächte resultierenden Rechten und nachfolgenden Abkommen berufen. Diese mit dem bundesdeutschen Datenschutzverständnis wenig kompatiblen Vereinbarungen und Zugeständnisse sind und waren allen Bundesregierungen, auch denen mit sozialdemokratischer und bündnisgrüner Beteiligung, bekannt.

Die damaligen Alliierten können sich aber auch darauf berufen, dass ihr nachrichtendienstliches Vorgehen jahrzehntelang hingenommen und stillschweigend geduldet worden ist. Speziell auch Deutschland hat von den Erkenntnissen, die mit Prism und Tempora gewonnen wurden, profitiert und ist bislang von größeren Anschlägen verschont geblieben; auch wenn der gebetsmühlenartig vorgetragene Verweis auf die Sauerland-Terrorgruppe sich in der öffentlichen Debatte zunehmend abnutzt.

Genüsslich versucht die Opposition, die digitale Schnüffelaffäre Kanzlerin Angela Merkel persönlich ans Bein zu nageln. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück erinnert immer wieder an ihren Amtseid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, und hält der Kanzlerin vor, sie sei speziell gegenüber den Amerikanern nicht durchsetzungsfähig. In der achten Woche der von dem ehemaligen NSA-Agenten Edward Snowden mit seinen Enthüllungen zu Prism losgetretenen Affäre hat die Opposition daraus zwar noch keinen Wahlkampfhit zimmern können, doch nagt die ungeklärte Situation zunehmend am Image der Kanzlerin als Krisenmanagerin.

Es ging immer um Sicherheit und Machterhalt

Je länger die Affäre aber schwelt, desto mehr verschwimmen auch die Unterschiede zwischen totalitären Systemen wie dem stalinistischen und in dessen Gefolge dem SED-Kommunismus mit KGB und Stasi, despotischen Oligarchien und Diktaturen sowie auch lupenrein gelenkten Demokratien und deren jeweiligen „Diensten“. Immer schon wollten Herrscher wissen, ob Volk und Untertanen der eigenen Macht und dem von den Herrschenden okkupierten Staatsgebilde schaden oder es gar destabilisieren wollten. Stets ging es beim Auskundschaften nicht nur um Gefahrenprävention, sondern auch um Machterhalt. Mit der IT-Revolution haben sich die technischen Mittel dazu sprunghaft erweitert.

Der Auftrag an die „Dienste“ – so wird zunehmend auch von konjunkturell nun Aufwind verspürenden Verschwörungstheoretikern geargwöhnt – aber nicht. Weiter werde ohne hinreichende rechtliche Kontrolle und grundrechtsfundierte Abwehr abgehört, geschnüffelt und vielleicht auch ab und zu liquidiert, wer oder was zu unliebsam erscheint. Die vermutete Gefährlichkeit von im Fokus der Späher stehenden Subjekten obliege weitgehend der alleinigen Bewertung der jeweiligen Staatssicherheit oder Englisch National Security beziehungsweise Homeland Security.

Die „Bild“-Zeitung sieht die amerikanischen Freunde durch das Magazin „Stern“, das US-Präsident Barack Obama mit Adolf Hitler vergleiche, sowie die „Süddeutsche Zeitung“ und das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, die Amerika von einem krankhaften Wahn befallen sähen, in die Enge getrieben. Die Redaktion sah sich am 20. Juli gedrängt, eine Entlastungskampagne für die befreundete Nation unter dem Sternenbanner mit dem Artikel „Warum prügeln wir Deutsche immer so schnell auf die Amerikaner ein?“ zu starten.

Deutschland ist ein überwachter Staat

Denn NSA-Geheimdienstchef Keith Alexander leistet auch verbal seiner Regierung und seinem Land keinen guten Dienst. Gegenüber dem ZDF versuchte er, das Feuer im eigenen Strafraum mit einem fulminanten Eigentor zu löschen, indem er gegenüber der deutschen Öffentlichkeit mit bemerkenswerter Arroganz betreffend die Bitte um Aufklärung hinsichtlich der Spähprogramme erklärte: „Wir sagen Ihnen nicht alles – aber jetzt wissen Sie Bescheid.“

Solch brutale Burschikosität und vollkommen fehlende Sensibilität machen auch Merkel das Leben mit der Affäre zunehmend schwer. Viel mehr als die Aussage, Deutschland sei kein Überwachungsstaat, vermochte sie zwei Monate vor der Bundestagswahl auf ihrer traditionell letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause nicht zu Protokoll zu geben.

Doch geht es keineswegs um den von niemandem erhobenen Vorwurf, Deutschland sei ein Überwachungsstaat. Vielmehr geht es um die Tatsache, dass Deutschland auch 68 Jahre nach dem Kriegsende immer noch ein überwachter Staat ist. Sehen die NATO-Verbündeten USA und das EU-Mitglied Großbritannien ihre eigene staatliche oder territoriale Sicherheit noch immer durch das befreundete Deutschland bedroht? Oder werden gar Währungskonflikte und der Konkurrenzkampf um Marktanteile im internationalen Wettbewerb auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausgetragen? Sehen die USA die Währungspolitik der Kanzlerin und deren Weigerung, die Eurogelddruckmaschinerie noch ungebremster rotieren zu lassen, als einen Angriff auf ihre ökonomischen Interessen an, gegen die auch nachrichtendienstlich vorzugehen ist?

Solchen Spekulationen kann die westliche Führungsmacht USA nur mit entschlossenem Handeln den Boden entziehen. Die nationalen europäischen Regierungen, inklusive dem in Europa starken Deutschland, sind ebenso wie die EU-Kommission nahezu mit ihrem Latein am Ende. Auch wenn die sozialdemokratische Opposition konstruktive Ansätze wie die Entwicklung eines „Internet-Völkerrechts“ gegen die „Datenpiraterie der Geheimdienste“ anregt und die Kommunikationsfreiheit als „die Bürgerrechtsfrage des 21. Jahrhunderts“ beschreibt (Thomas Oppermann in der „FAZ“ vom 20. Juli, Seite 10).

Der Ball liegt nun im Feld von Barack Obama. Der US-Präsident muss jetzt auf die Europäer zugehen und selbst einen Anstoß geben für neue international gültige Regeln. Sein Groll gegenüber Merkel wegen der von ihr im Juli 2008 verweigerten Rede als Präsidentschaftskandidat vor dem Brandenburger Tor und ihrer Widerspenstigkeit in Sachen Eurowährungspolitik darf nicht so weit gehen, dass Obama eine ernsthafte Schädigung der Reputation der Vereinigten Staaten in Kauf nehmen sollte.

Auch darf sich der Präsident international schon gar nicht als relativ machtlose oder vielleicht gar abhängige Variable seiner eigenen „Dienste“ präsentieren. Die Werte des Westens stehen mittlerweile auf dem Spiel. Der Westen und die freie Welt brauchen jetzt ein Amerika mit einem Präsidenten, der mit Klugheit und Entschlossenheit den gordischen Knoten zwischen Sicherheitsinteressen und dem Recht auf Freiheit und eine geschützte Privatsphäre löst.

von Richard Schütze
22.07.2013
   
 
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