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Presse / Publikationen / 2013_2014 /  

Dank Edward Snowden steht der Westen moralisch entblößt vor aller Welt. Dabei haben die Politiker doch nur das gemacht, was alle machen.
 
Alle tun es. Jeder nach seinen Fähigkeiten. Jeder weiß, dass es die andern auch tun. Jeder hat jeden im Verdacht, es immer besser zu tun. Alle glauben auch, es tun zu müssen. Der Dumme ist der, der dabei erwischt, entlarvt oder geoutet wird.

Alle taten es auch schon immer. Weil die Welt immer schon unsicher war und immer unsicherer wird. Weil Sicherheit sonst für niemand mehr zu gewährleisten erscheint. Aber auch, weil das technische Wettrüsten immer neue Möglichkeiten eröffnet. Für die, die als Terroristen oder Aufständische zivile oder militärische Einrichtungen attackieren und Zugang auch zu Massenvernichtungswaffen erhalten oder sich verschaffen könnten. Bakteriologische, chemische oder gar nukleare Waffen in der Hand zu allem entschlossener Minderheiten würden alle erpressbar machen und existenziell gefährden. Lokal, regional, global. Für die, die solche Gefahren abwehren wollen, gilt die Maxime: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit wie nötig. Oder auch umgekehrt.

Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe

Wer auch immer auf der Welt andere belauscht und beobachtet, der weiß, dass Wissen Macht ist. Schnell verfügbares Wissen, allüberall. Für Despoten ist die Schnüffelei genauso wenig ein moralisches Problem wie für Desperados der Guerillakrieg oder ein Anschlag aus dem Hinterhalt. Beide leben nach dem Gesetz der Gesetzlosigkeit. Sich pseudodemokratisch gerierende Diktatoren versuchen zumindest, ihr Handeln und das ihrer Handlanger verschämt zu verbrämen.

Der Westen aber steht – dank eines jugendlichen Mitarbeiters des US-Geheimdienstes NSA auf Hawaii – moralisch entblößt nackt vor aller Welt. Im ethischen Dilemma zwischen rechtsstaatlicher Zivilgesellschaft und rechtsfreier Barbarei. Dabei tat auch er nur, was auch alle andern tun. Aber wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.

In aller Herren Länder formieren die „Dienste“ Apparate und schulen Menschen fürs professionelle Lügen und raffiniertes Betrügen. Eine teuflische Welt. Die meint, nur so Sicherheit bieten und ihre Not wenden zu können.

Wer in die DDR einreiste oder die Transitwege von und nach Berlin nutzte, dem war klar, dass seine Ausweispapiere von der Stasi kopiert und sogar mit Nadelstichen präpariert wurden. Man sah die Wachtürme, Ferngläser, Hunde und auch jene unauffälligen Gestalten mit den merkwürdigen Mänteln in parkenden Autos. Wer hinter den Zaun oder dort telefonierte, dessen Worte wurden aufgezeichnet, ausge- und in Bezug auf seine Systemkonformität hin bewertet. Wer in der Messestadt Leipzig als Westler logierte, dessen Hotelzimmer war verwanzt und an der Bar wartete geschultes weibliches Personal zwecks intensiverer Betreuung. Schließlich aber erstickte die DDR an ihrer Nachrichten-Sammelwut und ihrem Datenwahn. Sogar den eigenen Untergang bekam sie zu spät mit.

Rechtswidrig erlangte Erkenntnisse wie Früchte vom verbotenen Baum

Doch dieses Beispiel schreckt Staatsgebilde ohne Grund- und Freiheitsrechte herzlich wenig. Sie rüsten ihre Igel mit immer raffinierteren Stacheln aus, um dem Freiheitsdrang der Hasen stets von Neuem die Luft abzustechen. Der Westen aber gab sich Regeln. Von den Menschen- bis zu Freiheits- und Grundrechten. Von der Gewaltenteilung bis zur Funktionentrennung. Von machtpolitisch oktroyierter Legalität hin zu ethisch begründeter Legitimität.

Richtig ist, dass Deutschland von den nachrichtendienstlich gewonnenen Erkenntnissen und der ungebrochenen Historie des Spionierens vor allem auch seiner ehemaligen Feinde, der Weltkrieg-II-Alliierten, profitiert. Ohne die Hinweise amerikanischer, britischer und französischer sowie einiger anderer Dienste wie beispielsweise dem libanesischen wären deutsche Soldaten im Auslandseinsatz, aber auch harmlose Bürger im Inland gefährdet und bei Anschlägen hätten wohl auch bereits viele Menschen ihr Leben verloren. Die „Sauerland-Bande“ und das verhinderte Kofferattentat am Bonner Hauptbahnhof sind zwei der bekannten Beispiele und stehen pars pro toto für eine wohl erheblich höhere, der Öffentlichkeit sicher auch absichtlich nicht bekannt gemachte Dunkelziffer. Hier werden auch rechtswidrig erlangte Erkenntnisse wie Früchte von einem verbotenen Baum genossen und genutzt. Den Partnern, die die berühmte Drecksarbeit machen und ihre Leute für die Sicherheit auch deutscher Staatsbürger ins Feuer schicken und sie dort mitunter auch opfern, sei Dank.

Die Weltkriegs-Alliierten, vorweg die Amerikaner, können sich zudem auf vertragliche Zusicherungen noch aus der Nachkriegsära berufen, als die Souveränität der Bundesrepublik eingeschränkt war und die Siegermächte in Deutschland das Sagen hatten. Zudem haben die USA mit den Al-Qaida-Anschlägen von 9/11 ein Trauma erlitten, das sich unheilvoll mit dem Risiko einer Paranoia, die jeden Geheimdienstler im Laufe seiner Karriere zu einem Sicherheitsfanatiker machen kann, paart.

Muss erst ein Attentat her?

Kanzlerin Angela Merkel, die all dies weiß, tut sich daher schwer mit Schuldzuweisungen. Die Explosion einer „schmutzigen Bombe“ mitten in Berlin, die Verseuchung des Trinkwassers im Ruhrgebiet, ein terroristisch herbeigeführter Ausbruch einer virologischen oder bakteriellen Epidemie in München oder ein gezielter Flugzeugabsturz auf die voll besetzte Semperoper in Dresden – und der Rechtsstaat mit garantiertem Datenschutz hätte auch hierzulande einen ganz schweren Stand gegenüber dem Ruf nach dem kurzen Prozess mit durchgreifenden und flächendeckenden Überwachungsmaßnahmen. Da haben die Grünen, SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und sein Parteichef Sigmar Gabriel gut brüllen; so mancher neue Regierungschef ist, nachdem er im Amt mit allerlei Geheimnissen vertraut gemacht wurde, als mit schwerer Verantwortung beladener und veränderter Mensch wieder herausgekommen. Auch Frank-Walter Steinmeier hat guten Grund, mit Kritik an der Kanzlerin und der Regierung sehr zurückhaltend zu sein; das Stichwort für ein entsprechend schlechtes Gewissen heißt Murat Kurnaz und dessen jahrelange Inhaftierung ohne rechtsstaatliches Eingreifen der damaligen Bundesregierung und des Kanzleramtsministers Steinmeier im Terrorgefangenenlager Guantanamo.

Wer aber hier wie dort im Glashaus sitzt, der soll neben Steinen nicht auch noch Felsbrocken aufhäufen. Dazu gehört, dass neue Regeln auch für den Bereich der Wirtschaftsspionage offen diskutiert und vereinbart werden müssen. Die RAF-Analyse, der „militärisch-industrielle Komplex“ sei untrennbar verwoben, mag für autokratische und totalitäre Regime zutreffen. Die westlichen Demokratien aber müssen sich auch mit den Details auseinandersetzen. In der freien Welt muss offen diskutiert werden, welche Technologie und Forschung tatsächlich als sicherheitsrelevant anzusehen ist und in welchen Bereichen es wirklich um Leben und Tod, Sein oder Nichtsein geht. Alles sonstige Ausspähen ist ein Fall für die GATT- oder WTO-Verhandlungen zu den Themen Freihandel, Wettbewerbsbenachteiligung, Ausbeutung und Korruption.

Der Westen darf auch nicht die Bühne bieten, sich als Speerspitze des Unrechts vorführen zu lassen. Es ist erbärmlich, wenn ein Edward Snowden die westliche Führungs- und Weltmacht international in vollkommene Verlegenheit bringen kann und als Spielball in dem offenbar beginnenden neuen Kalten Krieg ge- und missbraucht werden kann. Geradezu blamabel ist, wenn das Flugzeug eines Staatsoberhaupts im Luftraum der freien Welt zur Landung genötigt und dann auch noch gefilzt wird. Der bolivianische Präsident Evo Morales lehrt den Westen Mores. Schlimmer geht’s nimmer.

Das ethische Dilemma

Auf dem Grund der aktuellen Affäre wartet die Frage, ob und wie sich der Charakter und die Psyche von Menschen verändern, die ein Berufsleben lang zum Tarnen, Täuschen und Belauschen angeleitet werden. Darf der Mensch lügen und betrügen? Zunächst gilt der moralische Grundsatz: Nicht jeder hat ein Recht auf Wahrheit und nicht jede Wahrheit muss immer gesagt werden. So wird auch manche „Notlüge“ gerechtfertigt. Dieses ethische Dilemma aber erzwingt eine dauernde Güterabwägung zwischen widerstreitenden Werten, dahinterstehenden Gütern und auch Interessen. Ein waches Gewissen ist nur dann mit Verantwortung urteilsfähig, wenn es sich frei informieren und mit Klugheit und Weisheit eine eigene sittliche Entscheidung fällen kann. Das kann auch einmal eine Befehlsverweigerung beinhalten.

Die politische und ethische Debatte, ob Edward Snowden für sein „die Wahrheit sagen“ als „Verräter“ angeklagt oder gar zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden darf, steht dem freien Westen bald bevor. Die führenden Repräsentanten der freien Welt sollten sich dabei dann aber nicht erneut blamieren.

von Richard Schütze
08.07.2013

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